27.05.2022, 09:02 - Wörter:
I like the way I can't keep my focus
Die Feiertage hatten Urlaub für Emrys bedeutet. Gezwungenermaßen; ihm lag nicht sonderlich viel an Weihnachten, er hätte auch gearbeitet; aber sein Stab hatte die freien Tage verdient und so hätte er es niemals gewagt, jemanden an den Feiertagen ins Büro zu zitieren. So hatte er die freien Tage mit Sport, lesen und leckerem Essen verbracht und war froh gewesen, als das ganze Bla Bla um Weihnachten und Neujahr endlich vorbei war. Nun noch die kommenden Tage mit ihren schrecklichen Neujahreswünschen (er hasste es, wenn alle möglichen Leute ihm ein frohes neues Jahr wünschten. Man wünschte sich doch auch keinen schönen neuen Monat oder eine schöne neue Woche, was sollte das alles?) hinter sich bringen, dann ging alles endlich wieder seinen gewohnten Gang.
Natürlich hatte er in seinen freien Tagen viel Zeit gehabt, an Ellis zu denken. Über Ellis nachzudenken. Über... das, was zwischen ihnen war, was auch immer es war; denn kategorisieren konnte er es nicht. Sie waren keine Bekannten, aber auch keine Freunde, irgendwie eine Mischung daraus und dennoch gleichzeitig auch mehr. Emrys war durcheinander, aber das war ihm nicht unangenehm. Er mochte es, dass es für Ellis und ihn keine passende Schublade gab. Sie waren, was sie waren, und wohin sich das Ganze entwickelte, würde die Zeit schon noch zeigen, wenn ihr danach war.
Emrys ertappte sich dabei, wie er seinen Gedanken nachhängend aus dem Fenster seines Büros starrte. Vor ihm lag ein Stapel Papiere; Dinge, die er unterzeichnen musste, eine Rede, die er Korrektur lesen musste. Aber er dachte an Ellis. Sie hatten ein paar Grüße über die Feiertage ausgetauscht, aber weiter nicht groß miteinander Kontakt gehabt. Wie hatte sie wohl Silvester verbracht? Hatte sie gefeiert, war sie mit Freunden aus gewesen? Oder hatte sie, so wie er, einen ruhigen Abend zuhause genossen?
Energisch klopfte er auf den Papierstapel vor sich. Konzentrier dich, Westbrook! Durch Tagträumerei würde er es nicht weit bringen. Er musste sich auf die Arbeit konzentrieren, auf seine bevorstehende Kandidatur, auf seine Karriere. Für zwanzig Minuten schaffte er es, konzentriert zu arbeiten, dann wurde er durch seine Sekretärin gestört. Noch während er mit ihr sprach, klingelte das Telefon, dann gab es ein Meeting, und anschließend war Lunchpause. So drehte sich das Hamsterrad des heutigen Tages stetig weiter, bis sein privates Handy vibrierte und Emrys zwei einfache Worte las: Komm schaukeln. Emrys zögerte nicht eine Sekunde. "Bitte entschuldigen Sie", unterbrach er Verwaltungsminister Conrady, mit dem er gerade telefonierte. "Es ist mir sehr unangenehm, aber da schneit gerade ein Termin rein, zu dem ich sofort aufbrechen muss. Wir sind uns aber im Grund einig, oder? Gut, dann bitte ich Kelly, mit Ihrer Sekretärin einen Termin auszumachen, um alles Weitere zu besprechen. Was halten Sie von einem Lunch, selbes Restaurant wie das letzte Mal? Gut, ich freue mich, Conrady. Bis dann!" Er legte auf, schnappte sich seinen Mantel und nahm sich nicht einmal die Zeit, die Tür seines Büros zu schließen. "Kelly, ich muss dringend weg. Sag die restlichen Termine für heute bitte ab, ja?"
"Aber...", setzte seine Sekretärin Kelly an, doch Emrys rauschte einfach an ihr vorbei. "Danke, du bist ein Schatz!"
Weg war er.
In der Tiefgarage sprang er in seinen Wagen und gab dem Chauffeur Anweisung, wohin er wollte. Während er sich auf den bequemen, ledernen Sitzpolstern zurücklehnte, kam eine zweite Nachricht. Wenn er sich traute - ha! Natürlich traute er sich. Rasch tippte er eine Antwort: Sprich deinen Wunsch drei Mal laut aus, vielleicht geht er dann in Erfüllung! Dann steckte er sein Handy ein und blickte aus dem Fenster, hinaus in das eiskalte New York. Unbändige Freude stieg in ihm auf. Er liebte die Unberechenbarkeit dieser Frau. Sie riss ihn aus seiner Routine, die er zwar liebte, aber ihm manchmal auch ziemlich eintönig vorkam. Genau so, wie ihm der Verkehr heute furchtbar schleppend vorkam, aber es vergingen tatsächlich nur etwas mehr als zwanzig Minuten, ehe der Wagen hielt. Emrys sprang aus dem Auto. "Machen Sie ruhig für heute Feierabend, Ron. Ich nehme mir später ein Taxi." Wer wusste schon, wie lange Emrys nun mit Schaukeln verbringen würde... Er ließ seinen treuen Chauffeur ungern eine unbestimmte Zeit warten. Zwar würde er dafür bezahlt werden, aber bei den Temperaturen möglicherweise stundenlang in einem auskühlenden Auto zu sitzen, war unmenschlich. Zum Glück gab es ja jede Menge Taxen in New York.
Emrys zog seinen Mantel fester um sich und betrat den Park. Aus seinen Manteltaschen kramte er Handschuhe hervor und streifte sie sich über. Die Schaukeln entdeckte er auf Anhieb und auch die schmale Gestalt, die bereits schaukelte. Grinsend trat er auf sie zu. "Du kommst extra zum Schaukeln nach New York? Ich wusste gar nicht, dass unsere Spielplätze so viel besser in Schuss sind als die bei euch in Boston." Er lehnte sich an das Gestänge der Schaukeln und betrachtete Ellis einen Augenblick lang. Etwas stieg in ihm auf und er stellte fest: Verdammt, er hatte sie tatsächlich vermisst!